{"id":4876,"date":"2022-10-17T12:36:36","date_gmt":"2022-10-17T12:36:36","guid":{"rendered":"https:\/\/strengmann-kuhn.de\/?p=4876"},"modified":"2023-02-16T12:41:41","modified_gmt":"2023-02-16T12:41:41","slug":"interview-sozialexperte-der-gruenen-bundestagsfraktion-fordert-eine-neuberechnung-der-regelsaetze-auch-beim-buergergeld","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/strengmann-kuhn.de\/interview-sozialexperte-der-gruenen-bundestagsfraktion-fordert-eine-neuberechnung-der-regelsaetze-auch-beim-buergergeld\/","title":{"rendered":"Interview | Zu B\u00fcrgergeld und Grundeinkommen in „Das Parlament“"},"content":{"rendered":"\n
Am 17.10.2022 erschien in der Wochenzeitung „Das Parlament“ ein Interview zum B\u00fcrgergeld.<\/p>\n\n\n\n
Der gesamte Beitrag: „Es reicht noch nicht“ von Claudia Heine erschien in der Ausgabe Nr. 42\/2022 Parlament: <\/strong>Herr Strengmann-Kuhn, Sie besch\u00e4ftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Thema Armut und fordern, dass soziale Sicherungssysteme armutsfest sein m\u00fcssen. Wie gro\u00df waren Ihre Bauchschmerzen bei der Agenda 2010 der rot-gr\u00fcnen Bundesregierung? Parlament: <\/strong>Mit dem B\u00fcrgergeld soll ein \u201eSozialstaat auf Augenh\u00f6he\u201c geschaffen werden. Reicht es daf\u00fcr, auf die Sanktionsdrohungen in den Anschreiben zu verzichten? Parlament: <\/strong>Was unterscheidet den Kooperationsplan von der jetzigen Eingliederungsvereinbarung? Parlament: <\/strong>Arbeitgeberverb\u00e4nde kritisieren die entsch\u00e4rften Sanktionen als fehlenden Anreiz, sich ernsthaft um eine neue Arbeit zu bem\u00fchen. Parlament: <\/strong>Ihre Partei m\u00f6chte eigentlich ein Ende jeglicher Sanktionen. Wie viel von der gr\u00fcnen Garantiesicherung steckt im neuen B\u00fcrgergeld? Parlament: <\/strong>Sie sind schon lange ein Verfechter des Grundeinkommens. Warum lohnt es sich, f\u00fcr diese Idee zu streiten? Parlament: <\/strong>Die Gesellschaft lebt seit Jahren in einem Ausnahmezustand, erst Corona, dann Ukraine-Krieg und Inflation. Das sind nicht gerade gute Voraussetzungen, um diese Idee umzusetzen, oder? Parlament: <\/strong>Mit dem B\u00fcrgergeld werden auch die Regels\u00e4tze deutlich angehoben. Sozialverb\u00e4nde wie \u00d6konomen kritisieren, dass auch dies wieder nicht armutsfest ist. Parlament: <\/strong>Der Niedriglohnsektor hat sich seit der Agenda 2010 auf einem Niveau von zirka 20 Prozent verfestigt. Das Problem wird seit Jahren beklagt – ohne Folgen. Parlament: <\/strong>Was bedeutet Armut f\u00fcr Menschen? Parlament: <\/strong>Viele Menschen, die Anspruch auf Sozialleistungen h\u00e4tten, nehmen diese nicht in Anspruch, aus Scham oder wegen der umst\u00e4ndlichen Beantragung. Erwarten Sie eine sp\u00fcrbare Ver\u00e4nderung mit dem B\u00fcrgergeld?
und ist hier<\/a> auf der Website des Deutschen Bundestages
und auf der Seite der Zeitschrift „Das Parlament“<\/a> zu finden. <\/strong><\/p>\n\n\n\n
Strengmann-Kuhn<\/strong>: Ich habe das aus politischer und aus wissenschaftlicher Perspektive sehr kritisch gesehen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war richtig, aber man h\u00e4tte es besser und sozialer machen und damals auch schon mit einem Mindestlohn verkn\u00fcpfen m\u00fcssen. Das ist leider nicht passiert. Deswegen habe ich mich \u00fcber die Forderung im Koalitionsvertrag nach \u00dcberwindung von \u201eHartz IV\u201c gefreut und mich auch daf\u00fcr stark gemacht.<\/p>\n\n\n\n
Strengmann-Kuhn<\/strong>: Das ist ein Baustein. Aber wir ver\u00e4ndern grunds\u00e4tzlich die Systematik des Umgangs miteinander. Das f\u00e4ngt mit dem Kooperationsplan an, der am Anfang erstellt wird. Gemeinsam sollen die Kunden und Arbeitsvermittler \u00fcberlegen, was sinnvoll und notwendig ist, um den B\u00fcrgergeldbezug wieder zu \u00fcberwinden. Danach beginnt die sechsmonatige \u201eVertrauenszeit\u201c \u2013 weitgehend ohne Sanktionen. Im Moment gibt es viel Misstrauen und ein wesentliches Ziel der B\u00fcrgergeld-Reform ist, beidseitiges Vertrauen aufzubauen.<\/p>\n\n\n\n
Strengmann-Kuhn<\/strong>: Die Eingliederungsvereinbarung kann einseitig vorgegeben werden und der Kunde oder die Kundin muss sie dann unterschreiben. Das ist beim Kooperationsplan nicht mehr so. K\u00f6nnen sich Arbeitssuchende und Arbeitsvermittler nicht einigen, soll erstmal einen Mechanismus greifen, um zu vermitteln. Das neue System ist wirklich auf Kooperation aufgebaut, w\u00e4hrend die Eingliederungsvereinbarung teilweise ein einseitiger und kaum verst\u00e4ndlicher Verwaltungsakt war.<\/p>\n\n\n\n
Strengmann-Kuhn:<\/strong> Es ist eine grunds\u00e4tzlich falsche Annahme, dass Menschen nur deswegen eine Arbeit aufnehmen oder eine Weiterbildung machen, weil sie mit Sanktionen bedroht werden. Dahinter steckt ein fragw\u00fcrdiges Menschenbild. Die \u00fcberwiegende Mehrheit ist motiviert, f\u00fcr den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Auf diese Motivation setzen wir. Deswegen soll es k\u00fcnftig unter anderem ein Weiterbildungsgeld geben und das hinzuverdiente Einkommen soll weniger angerechnet werden. Insgesamt f\u00fchrt das neue System zu mehr Motivation und besserer Arbeitsvermittlung.<\/p>\n\n\n\n
Strengmann-Kuhn<\/strong>: Was das Verh\u00e4ltnis von Jobcentern zu den Betroffenen angeht, steckt da eine Menge von unserem Konzept drin. Das wollten wir insgesamt neu aufstellen und da waren wir uns in der Koalition auch einig. Ansonsten werden zwar Sanktionen nicht komplett abgeschafft. Aber die meisten B\u00fcrgergeld-Beziehenden werden nach den geplanten Neuregelungen \u00fcberhaupt nichts damit zu tun haben. Momentan steht auf jedem Schreiben grunds\u00e4tzlich eine Sanktionsandrohung unten drunter, k\u00fcnftig soll das erst nach mehrfachen Termin- oder Mitwirkungsverweigerungen so sein und dann k\u00f6nnen auch Sanktionen verh\u00e4ngt werden.<\/p>\n\n\n\n
Strengmann-Kuhn:<\/strong> Zun\u00e4chst einmal ist das B\u00fcrgergeld keineswegs so etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie es derzeit \u00f6fter behauptet wird. Es bleibt eine bed\u00fcrftigkeitsgepr\u00fcfte Grundsicherung, die beantragt werden muss. Das Grundeinkommen ist dagegen die Idee, dass Menschen eine finanzielle Leistung bekommen, ohne dass sie sich als bed\u00fcrftig erkl\u00e4ren m\u00fcssen. Der Vorteil ist, dass die H\u00fcrden, die es im jetzigen Sozialsystem gibt, abgeschafft werden und allen Menschen das Existenzminimum garantiert wird, was ja im \u00dcbrigen ein Grundrecht ist. Verdeckte Armut wird dadurch deutlich reduziert, vielleicht sogar ganz beseitigt. Ich glaube, dass es die Gesellschaft und die Arbeitswelt positiv ver\u00e4ndern w\u00fcrde. Deswegen steht das f\u00fcr uns Gr\u00fcne als Leitidee nach wie vor auf der Agenda.<\/p>\n\n\n\n
Strengmann-Kuhn:<\/strong> Im Gegenteil: Gerade die Corona-Krise hat gezeigt, wie gut es gewesen w\u00e4re, wenn es ein Grundeinkommen gegeben h\u00e4tte und dadurch bestimmte Berufsgruppen wie K\u00fcnstler abgesichert gewesen w\u00e4ren. Auch bei den Entlastungspaketen hatten wir M\u00fche, daf\u00fcr zu sorgen, dass wirklich alle, die es brauchen, Hilfe bekommen. Wenn es bereits ein Grundeinkommen gegeben h\u00e4tte, dann h\u00e4tten wir diesen Auszahlmechanismus schon, der jetzt erst m\u00fchsam geschaffen werden muss.<\/p>\n\n\n\n
Strengmann-Kuhn<\/strong>: Bei der geplanten Anhebung geht es um einen Inflationsausgleich. Der beseitigt aber nicht das grunds\u00e4tzliche Problem: Der Regelsatz ist insgesamt zu gering und die Berechnung muss so umgebaut werden, dass er existenzsichernd ist. Ein paar finanzielle Verbesserungen gibt es immerhin. So werden Erwerbseinkommen weniger angerechnet, f\u00fcr Kinder gibt es schon seit dem 1. Juli 20 Euro im Monat mehr, in Weiterbildungsphasen gibt es 150 Euro im Monat mehr. F\u00fcr bestimmte Gruppen bewegen wir uns also in Richtung armutsfeste Leistungen. Aber das reicht noch nicht.<\/p>\n\n\n\n
Strengmann-Kuhn<\/strong>: Es war explizit ja Ziel von Gerhard Schr\u00f6der, Wolfgang Clement und anderen, den Niedriglohnsektor auszuweiten. Mit der Einf\u00fchrung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 wurde auf die krassesten Ausw\u00fcchse reagiert. Noch wichtiger ist: Wir wollen die Tarifbindung verbessern durch ein Tariftreuevergabegesetz, das die Vergabe \u00f6ffentlicher Auftr\u00e4ge an die Tarifbindung regelt. Das ist in Vorbereitung, damit mehr tarifgebundene Besch\u00e4ftigung entsteht. Die L\u00f6hne m\u00fcssen so hoch sein, dass man nicht noch B\u00fcrgergeld beziehen muss.<\/p>\n\n\n\n
Strengmann-Kuhn<\/strong>: Armut bedeutet, dass Menschen aufgrund fehlenden Einkommens vom normalen gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind. F\u00fcr Kinder ist das besonders schwierig, weil es den ganzen Lebensverlauf pr\u00e4gt, wenn sie in Armut aufwachsen. Aber es ist auch f\u00fcr Erwachsene ausgrenzend, wenn sie sich zum Beispiel keinen Gastst\u00e4tten- oder Kinobesuch mehr leisten k\u00f6nnen, denn das geh\u00f6rt zum normalen Leben dazu. Deswegen sollte das Ziel sein, dass jeder Mensch am normalen Leben teilhaben kann und das ist auch m\u00f6glich.<\/p>\n\n\n\n
Strengmann-Kuhn:<\/strong> Ja, denn wir bauen Stigmatisierungen ab und auch b\u00fcrokratische H\u00fcrden, indem wir in den ersten zwei Jahren Verm\u00f6gen und Wohnung nicht antasten. Aber wir m\u00fcssen noch mehr f\u00fcr die Information tun, denn viele Menschen wissen gar nicht, dass sie Hilfe bekommen k\u00f6nnten, gerade auch Erwerbst\u00e4tige mit geringem Verdienst.<\/p>\n\n\n\n